Als die Nazis Mina Rahr ins Lager steckten
Ein weitgehend unbekanntes Stück Dorfgeschichte aus Ebersgöns
Über 300 Jahre lang lebten auch im Stadtteil Ebersgöns christliche und jüdische Mitbürger in Frieden und Eintracht zusammen. Erst mit den Nationalsozialisten kam das Unheil über das Dorf. Eine jüdische Dorfbewohnerin, Mina Rahr geborene Mendel, wurde in den vierziger Jahren in das KZ Theresienstadt deportiert. Sie überlebte und kam nach dem Krieg nach Ebersgöns zurück. Ihre Geschichte und die ihres Elternhauses, das heute nicht mehr steht, entnahm Helmut Dörr einer Abhandlung von Bürgermeister i. R. Gerhard Ludwig, veröffentlicht 1997 im zur 800-Jahrfeier erschienenen „Dorfbuch Ebersgöns“
Die Zahl der jüdischen Mitbürger in dem Dorfe Ebersgöns war immer klein. Im Jahre 1836 vermerkte der damals für Ebersgöns zuständige Pfarrer Kilian Abicht aus Hochelheim 356 Einwohner, darunter 13 Juden. Die Volkszählung im königlich-preußischen Landkreis Wetzlar ergab im Jahr 1895 einen Wert von 1,3 Prozent im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung. Die Bürgermeisterei Rechtenbach bezifferte um 1900 die Ebersgönser Einwohnerschaft mit 348, 341 Evangelische und 7 Juden. Von insgesamt 72 Häusern waren 1836 nur zwei in jüdischem Besitz, darunter das noch vor wenigen Jahren erhaltene Haus in der Taunusstraße 13. Die Taunusstraße hieß bis zur Namensänderung 1935 Judengasse. Im Oktober 2009 wurde sie in Reußenweg umbenannt. Im Dorfmund wird sie von älteren Einwohnern auch heute noch „Jirregass“ genannt. Beim ersten Haus handelt sich um das Anwesen der Familie Mendel, das frühere Haus Nr. 46 in der Judengasse. Das zweite Haus stand in der Dorfstraße, der heutigen Straße zum Weißen Stein (Bis zur Umbennung 2009 Hauptstraße), nicht weit weg von der früheren und bereits im 19. Jahrhundert abgerissenen, weil baufälligen Synagoge („Judenschule“).
Das Haus in der Judengasse bewohnte zunächst der Familienvater Isaak Mendel. Er hatte zwei Söhne und eine Tochter. Er besaß eine kleine Landwirtschaft und ein paar eher kümmerliche Äcker. Er wird beschrieben als „sehr guter, gefälliger und dienstfertiger Mensch“. Mendel rettete beispielsweise dem Ebersgönser Johannes Mäser, Vater von vier unmündigen Kindern, das Leben. Mäser war beim Kirschenabmachen vom Baum gestürzt und ohnmächtig liegen geblieben. Er erhielt von dem beherzten Mendel im letzten Moment Erste Hilfe. Mendels ältester Sohn Isaac heiratete 1843 mit behördlicher Genehmigung die Oberkleener Jüdin Pfau Brendel. Beide betrieben außer der Landwirtschaft im Haus Nr. 46 einen Ausschank für Branntwein, Bier, Wein und Likör. Die „Schankwirtschaft“ befand sich im Erdgeschoss des Hauses in der Wohnstube. Die Gastwirtschaft wurde 1913 in Erbschaft übernommen von einem Verwandten mit gleichem Namen. Dieser Isaak Mendel war Viehhändler, der Rinder und Schweine der heimischen Bauern an bekannte Butzbacher Metzger verkaufte.
Mendel hatte mit seiner Frau Regine drei Töchter, Mina, Hedwig und Regina. Bei ihrer Geburt starb die Mutter. Mendel war zu diesem Zeitpunkt 37 Jahre alt. Er zog die Kinder mit Hilfe seiner ledigen Schwester Seda auf. Seda war so etwas wie der „gute Geist“ der Schankwirtschaft. Wegen ihres hervorragenden Handkäses kamen bis Ende der 20er Jahre sogar Butzbacher Geschäftsleute regelmäßig zu „Eisemanns Sette“ (so lautete der Dorfname der Frau). Die drei Mendeltöchter lebten lange im Haus bei Vater und Tante. 1920 verheiratete sich Mina Mendel, die älteste Tochter, mit dem aus Rheinhausen/Ruhr stammenden Erich Rahr, einem evangelischen Christen, der Ende des Ersten Weltkriegs in Ebersgöns einquartiert und im Dorf geblieben war. Die frisch Vermählten zogen 1920 nach Rheinhausen. Rahr arbeitete als selbständiger Kaufmann und danach als Angestellter der Firma Krupp. 1921 wurde Sohn Ernst geboren. Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten 1933 wurde die Ehe zur „Mischehe“ erklärt. Die Familie Rahr war zunächst von den Nachstellungen und Verfolgungen der Nazis verschont.
Demütigungen aber blieben nicht aus. Mina Rahr musste den jüdischen Zweitnamen „Sara“ annehmen und ab dem 19. September 1941 den gelben Stern mit der Aufschrift „Jude“ tragen. Da Erich Rahr in einem kriegswichtigen Betrieb arbeitete, blieb seine Ehefrau weitgehend unbehelligt. Aber im Juli 1944 war die Zurückhaltung der NS-Schergen vorbei. Mina Rahr geborene Mendel wurde mit 55 Jahren als rassischer Häftling in das Konzentrationslager Theresienstadt bei Prag deportiert. Sie wurde dort mit Arbeit und Hunger schikaniert, entging jedoch dem Tansport in die Vernichtungslager. Von Krankheit, Abmagerung und Schwäche gekennzeichnet gelangte sie nach der Befreiung Theresienstadts am 8. Mai 1945 durch die Rote Armee erst im Juli 1945 zurück nach Rheinbach zu Mann und Sohn. Die Wohnung in Rheinbach war ausgebombt. Also zogen die Rahrs nach Ebersgöns und übernahmen das inzwischen vom Reichsfiskus wieder an die rechtmäßigen Erben zurückgegebene Haus Nr. 13 in der neu benannten Taunusstraße. Die deutsch-jüdische Familie Rahr betrieb dort eine kleine Landwirtschaft mit Kuh- und Schweinehaltung.
Im Juni 1946 wurde die von den Nazis 1938 stillgelegte über 100 Jahre alte Gastwirtschaft „Zum fröhlichen Rheinländer“ nach bürokratischen Schwierigkeiten (sie zogen sich bis 1948) neu eröffnet. Viele ältere Ebersgönser erinnern sich noch gerne an die gemütlichen Stunden bei Rahrs, besonders wenn Robert Seip das Akkordeon auspackte und aufspielte. Bei „Eisemanns“ gab es anfangs nur „Fliegerbier“ im Ausschank (ein dünnes Bier, nicht unbedingt nach dem Reinheitsgebot gebraut) und „Quatschnik“ (einen künstlich hergestellten und mit Wasser verdünnten Sirup). Auf „illegalem Wege“ und gegen Naturalien kamen die Gäste (nebst Wirt Erich) aber auch an das damals sehr seltene und nur den US-Soldaten vorbehaltene Licher Bier, an Apfelwein aus privaten Keltern oder auch an schwarz gebrannten Schnaps.
Mina und Erich Rahr waren in die Dorfgemeinschaft integriert und mit allen Nachbarn „gut dran“. Über ihre schlimmen Jahre in Theresienstadt verlor Mina Rahr nie ein Wort. Sie zeigte sich als Wirtin immer freundlich und verbindlich, auch jenen Ebersgönser Hitler-Anhängern gegenüber, die sich im „Dritten Reich“ ihrer jüdischen Verwandtschaft gegenüber anmaßend, schikanierend und denunzierend verhalten hatten. Sinngemäß soll sie gesagt haben: „Wir leben in einer neuen Zeit“.
Das beliebte Wirtsehepaar hielt einmal sogar die Ebersgönser Dorfkirmes in einem Zelt nahe der Gastwirtschaft ab. Mina wurde berühmt für ihren köstlichen „Bellschuch“ – einen Hackbraten mit gedünsteten Zwiebeln. Später gaben die Rahrs aus Altersgründen ihr Lokal auf. 1970 feierten sie bei Karl und Irene Seip im Saalbau „Zum Löwen“ goldene Hochzeit. Mina Rahr war vom jüdischen zum evangelischen Glauben konvertiert. Sie starb am 23. Dezember 1972. Ihre Ehemann folgte ihr am 31. März 1980. Ihr Haus wurde von einem Nachbarn erworben und später ganz neu aufgebaut. [Autor: Helmut Dörr; Nov. 2007]