Die letzten Kriegstage in Ebersgöns

Werner Reusch und Zeitzeugen berichteten auf Winterwanderung viel Interessantes

Rundgang Schützen 2009

Rund 75 Teilnehmer umfasste die Winterwanderung des Schützenvereins Ebersgöns am 29.12.2009

Überaus groß war das Interesse an der alljährlichen Winterwanderung der Ebersgönser Schützen „zwischen den Jahren“. Rund 75 Mitwanderer fanden sich sehr zur Freude des Schützenvereinsvorsitzenden Horst Nagel am „Leiternhaus“ zum Abmarsch ein. Es war wohl das Thema, das die beachtliche Menschenmenge angelockt hatte. Denn der in Ebersgöns lebende Heimatforscher Werner Reusch berichtete während der mehrstündigen Wanderung vom Ende des Zweiten Weltkrieges, das auch für Ebersgönser Ortsbürger schmerzhafte und traumatische Erfahrungen mit sich brachte. Als Zeitzeugen aus den letzten Kriegstagen standen ihm dabei u. a. Karl Wächtershäuser und Hans Höchst zur Verfügung .

Der Zweite Weltkrieg und damit die verbrecherische Herrschaft der Nationalsozialisten endete mit der totalen Kapitulation am 8. Mai 1945. Für das Dorf Ebersgöns war er mit dem Einzug der Amerikaner bereits am 29. März 1945 zu Ende gegangen. An diesem Tag hatten die Einwohner großes Glück, denn das Dorf blieb bis auf einen Scheunenbrand von größerer Zerstörung verschont. Versprengte SS-Truppen hatten sich vom Heinrichsberg aus mit den heran rückenden Amerikanern ein Scharmützel geliefert. Dabei geriet das Dorf unter Beschuss. Reusch zitierte den Augenzeugen Karl Wächtershäuser, damals ein 14-jähriger Junge und ein Teilnehmer der Wandergruppe: „Am 29. März 1945 sind die Amerikaner auf dem Weg nach Ebersgöns wohl von der Waffen-SS beschossen worden. Die SS hatte sich in einem kleinen Wäldchen (dem „Kriegswäldchen“) oberhalb vom Heinrichsberg verschanzt. Die Amerikaner haben das Feuer erwidert und auch auf das Dorf geschossen. Dabei ist die Scheune von Karl Schmidt in der Hauptstr. 59 in Brand geraten. Es waren keine Kugeln von einem Maschinengewehr, sondern Granaten. Eine davon ist auch in den Garten der Familie Wilhelm in der Brühlgasse eingeschlagen. Die Scheune von Karl Schindel brannte lichterloh. Von der Weed bis hinauf zum Brandherd standen die Menschen in zwei „Ketten“ nebeneinander. In der einen Reihe wurden die vollen Wassereimer zum Brandherd gereicht, in der anderen kamen die leeren zurück an die Weed.“

In den Wirren der letzten Kriegstage hätte es um ein Haar noch ein kapitales Kriegsverbrechen in Ebersgöns gegeben. Als Augenzeugen zitierte Reusch dabei Hans Höchst, der auch an der Wanderung teilnahm und als Jugendlicher folgendes Geschehen beobachtet hatte: „In den Ebersgönser Steinbruch oberhalb des Wingerts hatten die SS-Leute, kurz bevor die Amerikaner kamen, etwa 40 französische Kriegsgefangene (Zwangsarbeiter) getrieben. Man wollte die Menschen erschießen. Bürgermeister Johannes Henrich und mein Nachbar Konrad Schindel hatten das mitbekommen. Sie sind dann mit Knüppeln in der Hand im Trab querfeldein hinauf zum Heinrichsberg gerannt. Dort angekommen haben sie gerufen: „Was wollt ihr da machen? Seid ihr denn verrückt geworden? Wenn die Amerikaner kommen, die legen das Dorf in Schutt und Asche!“. Welcher Wortwechsel noch stattgefunden hat, kann ich nicht sagen. Es waren aber zwei Respektspersonen. Zum Glück haben die SS-Leute die Erschießung nicht durchgeführt. Es hätte sonst wahrscheinlich nach dem Eintreffen der Amerikaner eine Katastrophe für Ebersgöns gegeben“.

Bereits am 1. März hatte sich gegen 8.00 Uhr morgens ein feindlicher Flieger im Tiefflug dem Dorf genähert. Plötzlich gab es ein ohrenbetäubendes Geräusch. Es wurde taghell. Zunächst dachten die Leute an einen Einschlag bei der Schule oder in einem Haus. Die Menschen hatten Glück, denn das Dorf wurde nicht getroffen. Der Flieger hatte außer einer Sprengbombe auch noch zahlreiche Brandbomben abgeworfen. Sie waren aber alle im freien Feld Richtung Wald niedergegangen. Nur die Luftmine hatte einigen Schaden angerichtet. Sie war im Wald zwischen dem „Sieh“ und dem Hochbehälter explodiert. Ein großer Krater war dort zu sehen. Einige Dächer im Dorf waren beschädigt, zahlreiche Fensterscheiben vom Luftdruck geplatzt. Großen Schaden erlitten die Fenster an der Südseite der evangelischen Kirche. Zahlreiche kleine Scheiben waren zerbrochen, die ganzen Fensterflächen eingedrückt.

Am 20. März hörte man es abends im Dorf zischen. Das Geräusch ähnelte einer Dampfmaschine. Dann krachte es. Ein Benzintank hatte das Hausdach der Familie Wilhelm Fey durchschlagen, die Luft war voller Staub. Das Dach war beschädigt, hatte aber kein Feuer gefangen. Im Feld am Dorfrand war außerdem eine Anzahl von Brandbomben niedergegangen. Sie richteten keinen Schaden an.

Am 22. März wurde das Dorf aus südwestlicher Richtung von feindlichen Fliegern angegriffen. Zwei Geschosse schlugen gegen die Wand des Wohnhauses von Landwirt Wilhelm Nagel, auch das benachbarte Anwesen des Landwirtes Wilhelm Köhler wurde getroffen. Das Dach und die Hauswand des Arbeiters Wilhelm Glaum durchschlugen mehrere Geschosse. Auf der Straße stand die Ehefrau des Arbeiters Friedrich Wilhelm. Sie wurde durch einen kleinen Splitter am linken Ann leicht verletzt. Um die Mittagszeit des nächsten Tages näherten sich von Pohl-Göns kommend drei feindliche Tiefflieger. Sie schössen mit Bordwaffen in das Dorf hinein. Es wurden Dächer beschädigt. Dachziegelstücke und Mörtelbrocken fielen zu Boden. Die Einschläge zündeten jedoch nicht. Menschen kamen nicht zu Schaden.

Nach ihrem Panzer-Einmarsch am 29. März aus Richtung Oberkleen errichteten die Amerikaner im Dorf im Anwesen des Landwirts Karl Höchst ihre ständige Kommandantur mit etwa 10 Soldaten. Das öffentliche Leben kam zum Erliegen. Hierzu zitierte Reusch wieder Karl Wächtershäuser: „Vom 20. März bis September 1945 war keine Schule. Da blieb uns Buben Zeit, durch die Straßen zu laufen und zu beobachten, was alles passierte. Wir haben beobachtet, wie die Amerikaner mit Jeeps um das Dorf gefahren sind und mit Maschinengewehren in den Wald geschossen haben. Damit sollten versprengte deutsche Soldaten aufgespürt werden, die sich im Wald versteckt hatten und sich ergeben. Einmal sind zwischen dem heutigen Schützenhaus und der Straße nach Pohl-Göns (dem „Eichweg“) deutsche Soldaten mit erhobenen Händen aus dem Wald gekommen. Sie wurden festgenommen, später nach Butzbach in ein Lager gebracht“.

Tags darauf hatten die Amerikaner wieder einige deutsche Soldaten festgenommen. Einer davon konnte sich nicht ausweisen und machte auch keine Aussage zu seiner Person. Er wurde von Amerikanern an die Ecke Schustergasse / Wächterspfad (im Ortsmund „Mesersch Kreuz“) abgeführt. Als er immer noch keine Aussage machte, musste er sich hinlegen. Er sollte sich sein eigenes Grab schaufeln. Als er anfangen wollte, kam eine unbekannte Frau, die im Ort wohnte, vorbei. Sie sprach gut englisch und redete mit den Amerikanern. Danach brachten die Amerikaner den deutschen Soldaten hinüber zum Friedhof. Der Soldat sagte immer noch nicht aus. Er musste sich auch dort auf den Boden legen. Erst nach einer weiteren Aufforderung hat er gesprochen und wurde dann abtransportiert.

Anfang April 1945 kamen sechs deutsche Soldaten an den Dorfrand, ohne dass die Amerikaner davon etwas mitbekamen. Sie hatten einige Tage im alten Schützenhaus verbracht und waren von der Bevölkerung mit Essen versorgt worden. Reusch: „Darüber wurde in Ebersgöns weiter nicht gesprochen. Man konnte doch ,keine Reklame machen‘, das war viel zu gefährlich.“ Die Soldaten hatten gutes Kartenmaterial dabei. Darauf war auch die Autobahn bei Griedel mit einem Wasserdurchlass eingezeichnet. Dort wollten sie die Autobahn unterqueren und dann in Richtung Süden weiterziehen. Die Autobahn war streng bewacht. Es war ein riskantes Unternehmen. Die Soldaten wurden nicht mehr gesehen.

Ein schreckliches Unglück ereignete sich am 1. Mai, wenige Tage vor dem Kriegsende. Neugierige Jugendliche hatten im Gemarkungsteil „Loch“ scharfe Granaten entdeckt und spielten mit den gefährlichen Geschossen. Einer der Jugendlichen versuchte, trotz eindringlicher Mahnungen, die Finger davon zu lassen, die Granaten zu öffnen. Er schlug mit einer Granate auf ein Rohr. Es kam zu einer Explosion und der Jugendliche wurde lebensgefährlich verletzt. Ein anderer Jugendlicher, der im letzten Moment noch flüchten wollte, wurde von einem Granatsplitter am Bein getroffen.

Nach dem Knall liefen aufgeregte Bürger zur Explosionsstelle. Den schwer verletzten und bereits halb toten Jugendlichen schaffte man mit einem Pferdefuhrwerk nach Bad Nauheim in ein Krankenhaus. Dort ist er kurz nach der Einlieferung gestorben. Der am Bein verletzte Jugendliche kam ins völlig zerbombte Gießen in eine Klinik. Dort wurde er operiert. Außerdem erhielt er einen Gipsverband, der aber nicht richtig angelegt worden war. Sein Bein verschlimmerte sich so, dass es wenig später im unteren Bereich amputiert werden musste.

Bevor es dann zum Schützenhaus zum Essen und zu weiteren Berichten ging, erzählte Karl Wächtershäuser noch Dramatisches vom 12. Mai 1944, als der Krieg noch fast ein Jahr dauern sollte: „In den Vormittagsstunden waren mehrere feindliche Geschwader über Ebersgöns geflogen. Die Schulkinder mussten dreimal in den Schulkeller. An diesem Tag ist auch ein feindliches Flugzeug beim Hausberg abgestürzt. Den Absprung von 13 Besatzungsmitgliedern über Ebersgöns konnte man deutlich sehen. Ein Engländer war „Am Tripp“ etwa 100 Meter oberhalb vom Wasserhochbehälter rechts auf einem Acker im Korn gelandet. Von den anderen Besatzungsmitgliedern gab es keine Hinweise. Die Bevölkerung konnte das Geschehen vom Dorf aus beobachten und ist „mit Kind und Kegel“ dort hin gelaufen.

Männer vom „Volkssturm“ stellten den Soldaten. Er hielt seinen Fallschirm fest. Plötzlich stand eine fremde Frau vor dem Engländer und hat ihm zweimal in sein Gesicht geschlagen. Bürgermeister Johannes Henrich ist sofort dazwischen gegangen und hat zu der Frau gesagt: „Lass das sofort sein. Das gibt es hier nicht“. Der Soldat wurde während des Nachmittags und der Nacht in dem kleinen Kämmerchen am Backhaus, damals die Bürgermeisterei, eingesperrt. Dort bekam er auch zu essen. Am anderen Tag wurde er abtransportiert.“

In der Nähe des weißen Steins, den die Wandergruppe ebenfalls ansteuerte, hatte das Flugzeug kurz vor dem Absturz seine Bombenlast abgeworfen. Es wurden 18 Einschläge gezählt, die zwei bis drei Meter tief waren. Auch ein Blindgänger wurde gefunden, der tief in der Erde steckte. Noch heute waren einige Bombentrichter zu sehen.

Die Reste des abgestürzten Flugzeuges lagen etwa 100 Meter unterhalb des Hausberges in Richtung Hausen-Oes verstreut. Auch das war zu erfahren beim heimatgeschichtlichen Rundgang: Kurze Zeit später, als die Amerikaner in Ebersgöns waren, habe sich die Frau, die dem englischen Piloten ins Gesicht geschlagen hatte, auf die US-Jeeps gesetzt und sich mit den GIs „angefreundet“.

[Text + Foto: dö]